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Big Fish von Tim Burton ist ein schöner Film. Es geht um einen sterbenden Vater, der sein Leben lang Geschichten erzählt hat - über sich selbst, die schönsten und versponnendsten Geschichten, die sein Leben zu einem aufregenden Märchen, in dem er der strahlende Held war, veredelten. Sein Sohn, der hinter diesen Geschichten nie den wahren Mann, den wirklichen Vater finden konnten, versucht am Ende seines Lebens, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, herauszufinden, was im Leben seines Vaters wirklich geschah. Doch er scheitert – der Vorhang aus Geschichten, oder aus Lügen, wie der Sohn sagt, lüftet sich nicht. Auf seiner Suche stößt er nur auf andere Varianten der Stories, die vielleicht etwas näher an der Wahrheit sein könnten. Ihre märchenhaften Züge behalten sie.
Der Film ist die Geschichte über die Lüge, die die Wahrheit sein kann. Über „einen Mann, der zu seinen Geschichten wurde“. Darüber, dass es eine poetische Wahrheit gibt, die mehr über den Menschen aussagt als bloße Tatsachen, ja, die die eigentliche Wahrheit ist. Burton geht dabei soweit, die eigentliche Wahrheit zu verweigern, sie als irrelevant zu erklären. Die bessere Wahrheit des Geschichtenerzählers adelt nicht nur sein eigenes Leben, hilft ihm aus der Erbärmlichkeit der irdischen Existenz zu etwas Höherem hinauf, sie verwandelt auch das Leben der anderen, der Zuhörer, es weckt ihren Sinn für das schöne, romantische, märchenhafte, gibt ihnen Hoffnung.
„Big Fish“ ist ein dreifacher Spaziergang: Durch die Mythen Amerikas und seiner Einwanderer, durch die Filme Amerikas und die Filme Tim Burtons selbst, der hier natürlich auch sein Credo, das des glücklichen Fantasten, abliefert. Wenn man die schönen Siamesischen Zwillinge am Ende des Films als zwei immer noch schöne, aber normale Chinesinnen wiedertrifft, den Riesen als nicht ganz so großen Riesen, ahnt man den Weg den die Inspiration in Burtons Kopf nimmt: Man muss die Welt mit den Augen eines Poeten sehen, um Poesie zu erschaffen. Gleichzeitig leitet uns Burton durch das Panoptikum seiner Lieblingsfilme: Er schafft in fast jeder Szene Bezugsfilme aufscheinen zu lassen, und das durchaus nicht als Zitate, sondern eher als ästhetische, motivische Assoziationen: Ewan McGregor springt durch den Film mit dem Gestus Gene Kellys, man sieht etwas wie Bonny and Clyde, man denkt bei den paradierenden Bürgern mit lustigen Hüten (Fez) an Laurel and Hardy’s „Sons of the desert“, Danny DeVito erscheint im Set von „Freaks“ und im Charakter des Siodmakschen „Wolfman“ – als Werwolf. Ein Auto liegt auf dem Grund eines Sees wie in „The Night of the Hunter“, Knaben laufen durch einen Wald wie in „Stand by me“. Und so geht es immer weiter, mit Bildern, die man (ich ) zu erkennen glaubt, ohne sie wirklich festnageln zu können.
Dadurch öffnet sich der Film für weitere Bezüge, die über den Selbstbezug des Autors hinausgehen: Das andere große Thema des Films ist Amerika, bis in den von Danny Elfman an die Dvoraks „Aus der neuen Welt“ angelegten Soundtrack. Er ist eine filmische Reise durch das Land in den Bildern seiner Filme (die ja unsere europäische Vorstellung von Amerika vor allem bestimmen – und vielleicht auch die der Amerikaner selbst). Wie der Geschichtenerzähler sich selbst mit seinen Märchen verwandelt, so erfindet sich auch das Land mit seinen Filmen. Sie basieren auf Realität, aber sie verwandeln sie, sie romantisieren, überhöhen sie. Ein wichtiger Bezugsfilm ist daher auch „The man, who shot Liberty Valance“. Als da am Ende die wahre Geschichte über den angeblichen Helden an Licht kommt, fragt der geständige Senator Stoddart den Pressemann, dem er alles erzählt hat: „Sie wollen die Geschichte nicht drucken, Mister Scott?“ Und der antwortet: „Nein, Sir. Hier ist der Westen, Sir. Unsere Legenden wollen wir bewahren. Sie sind für uns wahr geworden.“ Das ist dieselbe Achtung, die Burton seinem Helden, der sich in seine eigenen Geschichten verwandelt hat, entgegenbringt, und es zielt ins Herz der Sache: Nicht nur der Westen, das ganze Land besteht aus guten Geschichten, und die wollen sich seine Bewohner nicht verderben lassen. Wenn Burton predigt, dass die schöne Lüge wahrer ist als die Aufzählung kalter Fakten, ist der Weg nicht weit zu dem Präsidentenberater, der erklärt, die Demokraten hätten das Problem, dass sie „reality based politics“ betrieben (Quelle: Svenson). Die Bush-Administration hingegen erschaffe ihre eigene Realität. Sie schafft Geschichten – Lügen – die sich die Menschen nicht verderben lassen wollen. 70% der Bush-Wähler glauben nach wie vor, dass es im Irak Massenvernichtungswaffen gab. Sie glauben an die aufregende, edle, stolze, wehrhafte Realität, die die Regierung ihnen erzählt und in der sie selbst der Held sind. Und wer will es ihnen verdenken – folgt man Burton, sind sie zwar nicht im Recht, das sind möglicherweise die miesepetrigen, furzquersitzenden Demokraten, aber sie haben dafür ein höheres Recht, das nicht angreifbar ist („Man sieht nur mit dem Herzen gut“, flüstert der kleine Nervtöter von hinten rechts). Am Ende von "Big Fish" rettet die wahre Lüge das Leben des Vaters in die Legende - der Mantel der Lüge ist, im Gegensatz noch zu "Liberty Valance", nicht mehr zerreißbar, dahinter kommt nur eine andere, nicht weniger märchenhafte Version der Wahrheit zum Vorschein. Bezogen auf Regierungshandeln stimmt das bedenklich.
Amerika mag die Lügner lieber als die Rechthaber, und es hört seinem obersten Märchenonkel noch vier weitere Jahre zu.
 

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