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Ein Woody-Allen-Film, also reden wir über Woody Allen. Ein Woody-Allen-Film, in dem erfreulicher Weise alles ist, wie man es sich wünscht. Wie in den "guten alten" Filmen: New York, aufgeregte, schnelle Gespräche über die Zumutungen des Lebens, Angst vor dem Tod, der Liebe, wunderbare Gags, Psychiater, Schreiber, hysterische Frauen, Leidenschaft, Verzweiflung, Jazz, Jogger im Central Park...
Man fühlt sich sofort wohl in diesem Film, auf den ich schon lange gewartet habe. Wie in einem alten Cordjakett. Mit Lederflicken, versteht sich.

Nur eines ist nicht wie immer: Woody Allen. Seine übliche Rolle lässt er mal wieder spielen, diesmal von Jason Biggs, lustig schon in American Pie. Er selbst spielt eine andere, eine neue Figur, die der alten sehr ähnelt, aber in wichtigen Nuancen abweicht: Ein gealterter Gagschreiber, Ironiker, aber vor allem: Kein Verwirrter, kein Suchender, sondern einer mit einem festgefügten, zu Beginn etwas hysterisch erscheinenden Weltbild. Er stellt keine Fragen, er doziert. Seine Obsession: Selbstverteidigung, Schutz vor ihn umgebenden Feinden.

Leon de Winter hat in der aktuellen Cicero ("die" Cicero? Naja) einen Text darüber geschrieben, was es bedeutet, einen Feind zu haben. Einen Feind zu haben, bedeutet, dass es jemanden gibt, der dich töten will, egal, aus welchem Grund. Und du weißt es - da draußen ist jemand, der dich hasst, der dich töten will, und du kannst daran nichts ändern, du kannst nur damit leben, dich darauf einrichten.
Das ist, schreibt er, eine Erfahrung, mit der die Juden, er ist Jude, seit Jahrtausenden leben. Sie haben einen Feind, und sie wissen, dass sie es sich nicht einbilden, denn sie haben erlebt, was es bedeutet, wenn sie in seine Hände fallen.
Diese Erfahrung, schreibt er, macht nun die ganze westliche Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus. Er ist da radikal. Man solle sich nichts vor machen, ob man es möchte oder nicht, wir haben Feinde, die uns töten wollen. Dem mag man folgen oder nicht, die Überlegung, der Bewusstseinsunterschied ist es, der mir hier wichtig erscheint.
Wir, hier, heute leben seit Ende des kalten Krieges in einer Welt, in der wir keinen Feind zu haben glauben. Und selbst davor, in den Achtzigern, fühlte ich mich von der Bedrohung nicht wirklich gemeint, ich dachte: Der Feind der Sowjets bin nicht ich, es sind die Rechten, die uns regieren, ich werde nur bei dem Krieg, den sie anzetteln, mitdraufgehen. Ich habe nie geglaubt, dass der Russe mir persönlich ans Leder will, im Gegenteil.

In Woody Allens "Anything else" wird genau das verhandelt: der eine, der junge, Falk, glaubt in einer Welt ohne Feinde zu leben, in einer grudsätzlich heilen Welt, in der nur er irre ist. Die, die ihm zusetzen, verteidigt er. Der andere, der alte, Dobel, sieht sich von Feinden umzingelt.
Doch seine Ängste, seine Paranoia, die überall den Holocaust an der Wand entlang huschen sieht, ist nicht die übliche Allen'sche Paranoia, die Angst vor Krebs, vor Impotenz, Versagen. Denn Dobel ist eben nicht die übliche Allen'sche Figur, sie ist ein ironischer Pragmatiker mit tiefschwarzem, aber klarem Weltbild. Grotesk und tragisch ist seine Reaktion, nicht die Analyse. Er ist tatsächlich von Gewalt und Antisemitismus umgeben, und er zieht - sehr unallenhaft - die Konsequenz, sich zu wehren, nicht die, zu leugnen.
Dobel hat erkannt, dass es Menschen gibt, die ihm ans Leder wollen, und er tut, was er kann und schlägt ihnen die Windschutzscheibe ein, wenn sie ihn demütigen. Er ist ein Mann, der die Erfahrung dessen, was passiert, wenn man nichts tut mit sich herumzutragen scheint - nicht umsonst spricht er im Film einmal über die "Juden für Hitler", die sich arrangieren wollen. Sein Reflex, in der zivilisierten Welt, im modernen New York, stets ein "Survival Kit" bei sich tragen zu wollen, stets ein Gewehr in Griffweite, verliert bei der Projektion auf den Holocaust schlagartig an Skurrilität.
Die Szene, in der ihm von zwei fetten aggressiven Germanen eine Parklücke gestohlen wird und sie ihn ungeniert mit Prügel bedrohen und verscheuchen, ist ein Schlüssel: Genau das erwartet er von ihnen, und ist nicht bereit, es als Ausnahme, die nicht zählt, durchgehen zu lassen. Er wehret den Anfängen, kehrt zurück und rächt sich an dem Wagen. Eine in ihrer Ironiefreiheit, Pointenlosigkeit untypische Szene, die die direkte, dumme Brutalität des "Feindes" vermittelt - und die Nutzlosigkeit von Falks Vorschlag, sich damit zu trösten, man habe doch den besseren Verstand und könne eine böse Satire auf den Vorfall schreiben. Dobel zieht lieber den Schraubenschlüssel.
Diese toternste Szene zeigt, dass Dobel nicht spinnt. Er ist die Stimme der Vernunft, auch sonst schätzt er ja die Situation, in der Falk lebt, durchaus richtig ein.
Man könnte nun sagen, der Film spielt in New York, und auch hier ist am 9.11. eine Bedrohung, eine Feindschaft plötzlich Realität geworden. Die Bushadministration tut ja alles, um die US-Bürger stets daran zu erinnern, dass Menschen auf der anderen Seite der Welt sie angeblich zum Feind auserkoren haben.
Der liberale Allen als Prediger des Heimatschutzes gegen die Gefahr des islamistischen Terrors? Man will es nicht glauben. Zu recht.
Bleibt man beim Film, bietet Allen eine Alternative an: Bring deine Feinde nicht um (wie der rasende Dobel es am Ende tut), sondern erkenne sie - und gehe einfach weg.
Denn natürlich sind die Feinde Falks nicht die Neonazis, die den aus der Kindergeneration der Holocaust stammenden Dobel wahnsinnig machen - die Feinde des modernen Menschen sind jene, die ihn daran hindern, sein Leben zu leben.
Doch, so kriegen wir Allen noch von George W. Bush weg. Für ihn ist der Wunsch, sich mit der Waffe in der Hand gegen den Feind zu wehren, nicht albern, nur altmodisch, überkommen.
Er schlägt vor, den "Feind" an einer anderen Stelle zu suchen: Nicht im mittleren Osten, sondern zuhause. Ihn dort zu erkennen, ist weit schmerzlicher, ihm zu begegnen, ihn zu verlassen möglicherweise weit mutiger. In den Bildern des Films gesprochen: Es braucht mehr Mumm, eine Frau zu verlassen, die man liebt, als einen Mann zu erschießen, den man hasst.

Gefreut habe ich mich über die kleine Anspielung auf Bunuel. Als Falk und Amanda das Kino verlassen sagt ein anderer Kinogänger "Ich verstehe nicht, warum sie nach dem Essen nicht einfach weggegangen sind." Sie waren im "Würgeengel", in dem sich eine ganze Abendgesellschaft in einer ähnlich stangnierenden Situation befindet wie Falk. Bloß, dass es für sie kein Entrinnen gibt, während Falk den Ausbruch schafft.
Svenson meinte am 11. Sep, 03:27:
Dobel
Es ist jetzt doch eine Weile her, dass ich den Film gesehen habe, aber was Du schreibst, klingt unmittelbar einleuchtend. Zumal es den Schwerpunkt - bei aller berechtigten Wertschätzung für Jason Biggs - auf Woody Allens Figur legt, die ja bezeichnender Weise aus dem Trailer verbannt ist. Ich glaube auch - oder glaubst Du das am Ende gar nicht - dass Dobel den Unterschied macht. Gäbe es die Figur nicht, wäre Anything Else immerhin die beste Woody-Allen Komödie seit einiger Zeit - aber irgendwie auf hohem Niveau second hand. Mit Dobel allerdings, der von Dir in seiner Bedeutung, soweit ich sie übersehe, vollständig erfasst ist, bekommt Jason Biggs (Rollennname vergessen, zu faul zum Nachschlagen) eine Dimension der Vorläufigkeit, die alles Gesehene in Frage stellt und damit intensiviert. Ich habe den Eindruck, hier geht es wieder um etwas. Den Eindruck hatte ich ernsthaft zum letzten Mal bei "Deconstructing Harry" und vor allem anderen bei Woody Allens letztem Meisterwerk "Husbands and Wives". Zum letzten Mal: Peter Kümmel in der "Zeit" lesen! 
bähr antwortete am 11. Sep, 08:08:
Aber ja, absolut, Dobel macht den Unterschied. Ja, hier geht es um etwas.
Und ich finde es faszinierend, wie er es schafft, einen hoch aktuellen Kommentar zur gesellschaftlichen Situation in den USA abzugeben, in dem er seine alte Erzählung noch einmal erzählt und sie nur leicht verschiebt. Es scheint fast, als greife er seine alten Erzählmuster nur noch einmal auf, um Dobel um so stärker aus ihnen hervor ragen zu lassen. Und wendet sich damit natürlich an ein Publikum, das seine Filme zum Teil des eigenen Gedächtnis gemacht hat, denn nur es kann ja die Differenz, das "andere" erkennen.
Ich habe an dieser Stelle über Michael Moore gesprochen. Auch ein Kommentar zu USA heute, aber keiner, der WIRKLICH was mit Kino zu tun hat. Allen dagegen ist durch und durch cineastisch. 
 

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